Kritische uberlegungen zur deutschen sprachenpolitik der gegenwart in russland | Language and Culture. 2017. № 10. DOI: 10.17223/24109266/10/12

Kritische uberlegungen zur deutschen sprachenpolitik der gegenwart in russland

The article discusses prerequisites for a balanced German language policy in Russia in the focus of the present language situation in Germany. The focus of the discussion is the antinomy "Exo- vs. Endoglossia" as well as the relevant conceptual apparatus as a synthesis of those of language contact research and sociolinguistics. The main focus here is on balancing language preferences, which should be respected in German language policy with regard to Russia. An essential part of the article is dedicated to the criticism of the existing language policy concept, which is characterized by an overly democratic view of the language-political variables. The analysis results of the current language situation in Russia can be expected in view of a drastic decline in status of the German a stronger language-critical engagement of the public and Russian Germanists and an inevitable revision of the contemporary politics of contemporary politics.

Kritische uberlegungen zur deutschen sprachenpolitik der gegenwart in russland.pdf Der RUckgang des Deutschen in Russland: HintergrUnde und Auswirkungen Der dramatische Ruckgang der deutschen Sprache in Osteuropa, vor allem in Russland, wo sie zumindest in der ersten Halfte des XX. Jhd. fast die einzige Fremdsprache, das Mittel der Wissenschaftskommunikation und Volkerverstandigung gewesen war, lasst sich im Allgemeinen auf eine Tat-sache zuruckfuhren: die ubermaBig demokratische Auffassung der deutschen Sprachenpolitik von den Zeitgenossen in der BRD infolge einer weitgehen-den Amerikanisierung der deutschen Sprache und Kultur. Die Symptome dieser Erscheinung allein im russischen Bildungswesen sind genau so gra-vierend wie unubersehbar und reichen von der Kurzung der Deutschstunden an russischen Hoch-, Mittelschulen und selbst an Gymnasien mit erweiter-tem Deutschunterricht uber die Abschaffung des Deutschen als Fremdspra-che uberhaupt (z.B. an der Polytechnischen Universitat in Tomsk, einer Stadt mit jahrhundertealter Deutschtradition), bis hin zur massenhaften - freiwilli-gen sowie erzwungenen - Konvertierung von Schulkindern und Studieren-den an Hoch- und Berufsschulen zur Anglophonie. Einer reprasentativen Umfrage aus dem Jahr 2011 zufolge lernte nur jeder Zehnte an den insge-samt sieben Tomsker Universitaten Deutsch, jeder Funfzehnte - Franzo-sisch. Im heutigen Russland wird Deutsch vorwiegend von denjenigen - ob Germanisten oder nicht - gelernt, die in Deutschland bessere Lebensverhalt-nisse sehen und dort aus diesem Grund einen Ehepartner suchen; dazu steht Ihnen das groBzugige Kommerzangebot der russischen Vertretungen des Goethe-Instituts zur Verfugung. In auBerst seltenen Fallen wird die Erler-nung dieser Sprache durch kulturhistorisches Interesse motiviert, vielmehr gilt das Interesse aber dem hohen Lebensstandard und guten Erwerbsper-spektiven. Diese beinahe erniedrigende Ausstattung des gegenwartigen Funktionsrahmens der Sprache von Klopstock, Brecht und Grass ist ein Pro-dukt der zugellosen Demokratisierung und Verwirtschaftlichung der deut-schen Kultur seit dem Kriegsende. Die akademische Tradition der russischen Germanistik, die ehemals solche groBtonende Namen wie Zirmunskij, Mos-kal'skaja, Guchman, Semenjuk, Domaschnev, Devkin usw. kannte, ver-kummert zusehends und lasst um die Germanistikfakultaten nicht nur im Transuralgebiet, sondern auch in Zentralrussland furchten. Jungere Kopfe, die sich eine krisenfeste Zukunft sichern mochten, haben langst auf Englisch umgesattelt und wollen nichts mit den „aussterbenden Sprachen Europas" zu tun haben, zumal sie bereits Erfahrung gemacht haben, dass deutsche Staats-burger im Ausland auch nur Englisch reden. Deutsche Germanisten berich-ten uber Deutsch in ihrer Heimat noch weniger Erfreuliches: „Vor kurzem tagte in Berlin eine Konferenz mit dem schonen Titel „Gedankenforscher". Alle Referenten - sechs Deutsche, drei aus den Vereinigten Staaten, ein Bri-te - waren hervorragend. Und alle sprachen Englisch oder, im Fall der deutschen Redner, mitunter auch so etwas Ahnliches. Seltsam gewahlte Worte und verschlungene Satze lieBen so manchen Vortrag weniger brillant wirken, als er inhaltlich war. Wer aber sprach im Publikum Englisch? Niemand. Und auch die vier auslandischen Redner hatten einen deutschen Vortrag ohne Muhe verstanden, denn uberall lagen Kopfhorer fur die Simultanubersetzung bereit. Selbstverstandlich habe man es sich gewunscht, dass die einheimi-schen Redner Deutsch sprachen, erklarte mir die finanzierende Stiftung. So ware die Resonanz in der Offentlichkeit starker gewesen. Aber die Professo-ren wollten es anders. Ihr Argument: Nur eine Veranstaltung mit Konferenz-sprache Englisch nehme man ernst" [3]. „Deutsch entwickelt sich in Deutschland zunehmend zu einem Frei-zeitdialekt", prophezeit Gunther Ottinger in Harold Woetzels spektakula-rem Film „Wer rettet die deutsche Sprache?" (2007), der fur viele im Aus-land ein Hoffnungstrager war. In Russland sowie fast uberall im postsowje-tischen Raum gewinnt Deutsch langsam das Attribut einer exotischen Sprache, die nur das onomasiologische Sachfeld „Deutschtum" bedient. Fur alles andere in der Welt scheint es schlicht Englisch zu geben. Ein Jahrhundert deutscher Geschichte mit seinen zahlreichen Basiserfindern und knapp 90 deutschsprachigen Nobelpreistragern, fundamentalen Errun-genschaften in Naturwissenschaften und Technik, Auszeichnungen in Lite-ratur und Friedenspolitik fiel im Heimatland vollig uberraschend dem Amerikafimmel zum Opfer [12: 940]. Die Amerikanisierung wird in diesem Beitrag zweierlei verstanden: im intralinguistischen Sinne als inflationar gewordener Gebrauch von Anglo-Amerikanismen bzw. diesbezugliches Sprechverhalten der Deutschen, die z.B. das franzosische Wort „Journal" nicht mehr auf franzosische Weise, sondern mit einer englischsprachigen Affrikate [dj] aussprechen; im extra-linguistischen Sinne betrifft der Begriff die Vorstellungen vom Funktionie-ren der deutschen und anderen Sprachen in bestimmten Verbreitungsgebie-ten, ihre sprachenpolitischen Variablen, Statusparameter usw.; unter diesem Gesichtspunkt versteht sich die Amerikanisierung hier als eine bedingungs-lose Kapitulation der Deutschen vor den Folgen der aggressiven Verbreitung des Englischen weltweit und die Einraumung seiner Vorrangstellung im ei-genen Land und zwangslaufig uberall in Europa (sic!). Die Mehrheit der in Russland tatigen Deutschen, darunter vor allem DAAD-Lektoren und Mitarbeiter des Goethe-Instituts, uben sich gern in „politischer Korrektheit" gegenuber dem invasiven und erfolgreicheren Eng-lischen und offerieren ihren russischen Fachkollegen ein Konzept der Spra-chenpolitik mit Deutsch in der Rolle einer Zweitfremdsprache. Es ist jedoch unklar, auf welches Areal das Konzept zu beschranke ware, denn sprach(en)politische bzw. sprachokologische Konzepte funktionieren in konkreten Rahmenbedingungen, aber von vornherein ist klar, in Russland ist diese Vision aus folgenden Grunden schlecht realisierbar: erstens funktio-niert hier uber knapp 17 Mio. Quadratkilometer eine einzige Staatssprache -eine sprachpolitische Dimension, die in der Welt nicht ihresgleichen hat; bei dem MindestmaB an akzeptierter Sprachdispersion, einer geschichtlichen Bedingtheit, fallt es vielen Russen schwer, uberhaupt eine erste Fremdspra-che zu erlernen, ganz zu schweigen von einer zweiten, fur die selbst diplo-mierte Philologen meistens keinen Gebrauch machen konnen; zweitens lau-tet die didaktische Weisheit fur das Sprachenpaar Deutsch und Englisch wie folgt: zuerst Deutsch und dann Englisch, nicht umgekehrt, wenn man beide Sprachen passabel beherrschen mochte. Bei der „Englisch 1 - Deutsch 2"-Kombination mehren sich in Zukunft statt hervorragender Germanisten le-diglich Schwanzer und Funfenschreiber und die Kenntnisse der zweiten Fremdsprache tendieren ein Jahr nach dem Abitur gegen null. Leider lasst sich nicht feststellen, ob diese Vision von einem deut-schen Sprachenpolitiksubjekt oktroyiert ist oder man hier eher mit einer Menge von ubereinstimmenden laienhaften Sprachenpolitikauffassungen zu tun hat, die bloB Ableitungen von der gegenwartigen Sprachsituation in der BRD sind. Noch weniger klar ist es, auf welchem Wege das Konzept im Vielvolkerland Russland mit zahlreichen hiesigen Kleinsprachen als Bil-dungskomponenten und anderen traditionell unterrichteten Fremdsprachen wie Franzosisch, das didaktisch gesehen zu Englisch besser passen wurde, in die Praxis umgesetzt werden soil. Will man es einschlieBlich oder nur in Russland realisieren und soll die „English-first-Policy", die erfolgreich in Deutschland umgesetzt wurde und als Folge der Amerikanisierung anzuse-hen ist, ein Beispiel fur ganz (Ost)Europa werden? Hochst polemisch erscheint auch die dahin gehende Argumentation einiger deutschsprachiger Germanisten, dass „man die Interessen der Ler-nenden in Russland in den Vordergrund stellen muss, bevor man die Werbe-trommel fur Deutsch ruhrt". Dennoch bekommt man von selbigen Kollegen keine Antworten auf die hieran anschlieBenden Fragen, - wie es Deutsch dann uberhaupt schaffen kann, gegen die aggressive und massiv unterstutzte transkontinentale Verkehrssprache Englisch im groBten Land der Erde anzukonkurrieren, wenn sich selbst in den Mutter-sprachlern kein Funke zur Konkurrenz entfachen lasst? - ware es nicht logisch, den Vorrang des Englischen in Frage zu stellen wenigstens in einer Situation, wo es heiBt, um Lernende zu kampfen? - wie und inwiefern ware es der deutschen Sprache in Russland selbst forderlich, wenn man die Meinungen von Kindern einholt, die in einer Welt aufwachsen, wo vieles Englisch (oder Halbenglisch) klingt? - ware die weltumspannende „as-default"-Anglophonie nicht Beweis genug, dass die Interessen der Lernenden beim Fremdspracherwerb nicht im Vordergrund stehen bzw. sowieso nicht wahrgenommen werden? - was, wenn die Interessen nur einem besseren Leben in Deutschland gelten; soll dafur die Werbetrommel geruhrt werden? Aber seltsamerweise hort man genau von der deutschen Seite, die in dieser Partie am starksten benachteiligt sein sollte, kein Wort der Kritik hin-sichtlich der Allgegenwart des Englischen. Die Haltung vieler deutscher Kollegen weckt den Eindruck, als hatten sie sich mit der Situation langst abgefunden und als lieBe sich an der bestehenden Rangordnung der Fremd-sprachen in der BRD sowie in Russland nichts mehr andern. Eine produktive Sprachkritik, gewisse Paritatsvorschlage, Anregungen zu einer gesunden Konkurrenz der Fremdsprachen in Russland fehlen als solche. Stattdessen lasst sich eine fast billigende, unterwurfige Einstellung gegenuber dem Eng-lischen erkennen. GroBe Hoffnungen setzen die Deutschen hingegen in eine Neufassung der foderalen Bildungsstandards (rus. FGOS) des russischen Bildungsminis-teriums, wonach an allgemeinbildenden Schulen der Russischen Foderation bereits im Herbst 2016 ab 5. Klasse eine zweite Fremdsprache verbindlich wird. Ohne Zweifel hat Deutsch hier gute Chancen, dank seiner reichen Tradition in Russland in schulischen Lehrplanen FuB zu fassen. Allerdings ver-binden die Systemkritiker diese umstrittene Neuerung weniger mit dem Wunsch von Ex-Bildungsminister Livanov „Intellekt und Gedachtnis der Schuler zu fordern", sondern lediglich mit dem proamerikanischen Charakter der Bildungsreformen im russischen Bildungswesen: „Die Einfuhrung einer zweiten Fremdsprache fuhrt dazu, dass die Schuler ihre Muttersprache kom-plett vergessen, dabei werden die Kenntnisse der anderen Fremdsprache so-wieso mangelhaft sein" [11]. Bei der glucklichsten und vielerorts hochst-wahrscheinlichen „Englisch 1 - Deutsch 2"-Kombination wird dem Deut-schen eine a priori nachteilige Position beschieden, denn der Grundsatz der fundamentalen sowjetischen Theorie des Fremdsprachenlernens lautet: um die beiden Sprachen gleichermaBen gut zu beherrschen, benotigt Deutsch fast das Dreifache an Zeitaufwand als Englisch. Ginge es dem russischen Bildungsministerium wirklich um die Qualitat, wurden die FGOS mit einem entsprechenden Vermerk versehen. Fur das Deutsche aber ware auch diese Kombination ein groBer Gewinn, so prekar ist dessen Status in Russland, welches fruher neben den USA zu den bedeutendsten Zentren der Auslands-germanistik weltweit zahlte. Aber das durchaus Schlimmste, das der deutschen Sprache in Russland wiederfahren kann, ist der Mangel an qualifizierten Lehrkraften. Der Beruf eines Deutschlehrers hat infolge des drastischen Ruckgangs des Deutschen erheblich an Attraktivitat eingebuBt. Als Folge werden landesweit Lehrstuhle fur Deutsch geschlossen bzw. mit denen fur Franzosisch zusammengelegt; Fremdsprachen-fakultaten, an denen groBtenteils Englisch unterrichtet wird, werden philologi-schen Einrichtungen angeschlossen, der Kaderabbau eilt an padagogischen Uni-versitaten, die ehemals und vereinzelt heute noch die staatliche Plattform fur die Berufsausbildung von Fremdsprachenlehrern waren, jahrlich von Rekordhoch zu Rekordhoch. Die Ausbildung von Germanisten wird allmahlich aus dem uni-versitaren Bereich in die meistens von NROs veranstalteten Kurse oder sogar nach Deutschland verdrangt. Angesichts solcher Veranderungen folgt die un-ausweichliche Frage nach der Nachfolge der reichen germanistischen Tradition in Russland: kommt es genauso wie bei den deutschen Sprachinseln im Ausland zum „Kontinuitatsbruch" nach K.J. Mattheier [7: 724] oder werden im Sankti-onskrieg beide Traditionen - die germanistische in Russland und die slawisti-sche in Deutschland - zeitgleich untergehen? Sprachhistorische und soziolinguistische Merkmale der deutschen Sprachenpolitik: Ein systematischer Uberblick Die deutsche Sprach- sowie Sprachenpolitik ist traditionell durch ei-nen Polyzentrismus der Normengebung gekennzeichnet, der in seinen we-sentlichen Zugen mindestens seit der Wiedervereinigung fortbesteht. Bei-spielsweise beschaftigen sich im heutigen Deutschland etwa 24 sprachpoliti-sche Subjekte (19 Sprachvereine, 2 Sprachstiftungen und 3 staatliche gefor-derte Sprachinstitutionen) mit der Normengestaltung der deutschen Gegen-wartssprache, wodurch die Normenvielfalt und -varianz erheblich gesteigert wird. Auch die KodifizierungsmaBnahmen unterscheiden sich von Subjekt zu Subjekt derart massiv, dass man in Einzelfallen nahezu von gegensatzli-chen sprachpolitischen Konzepten (z.B. bei der Dudenredaktion und dem Verein deutsche Sprache) ausgehen konnte. Die aktuelle Sprachenpolitik in der BRD hinsichtlich der zwei wichtigs-ten Komponenten der Sprachsituation im Land seit 1945 - des importierten englischen Metalekts und der deutschen Schriftsprache als Sprachsituations-exponent - verzeichnet einen akuten Mangel an StandardisierungsmaBnahmen angesichts der uberbordenden Zahl von Anglo-Amerikanismen im deutschen Sprachgebrauch der Gegenwart. Im krassen Wiederspruch stehen einerseits die Beflissenheit der Massenmedien, die deutsche Sprache mit immer neuen englischsprachigen Fremdwortern zu versetzen, und andererseits der ge-schichtlich bedingte Polyzentrismus der deutschen Sprach- und Sprachenpolitik sowie der damit zusammenhangende Einheitlichkeitsmangel an Sprach-normen, dieser Flut an Anglo-Amerikanismen effizient entgegenzuwirken. Die heutige Sprachnormenlandschaft in Deutschland befindet sich auf der Skala der sprachpolitischen Praferenzen unzweideutig links auBen und entspricht hiermit dem exoglossischen Pol, zu dessen unterscheidenden Merkmalen Normenvielfalt, Konzept der sog. Sprachdemokratie, daraus resultierendes Vorzug der Interessen einer Sprachperson gegenuber den des Sprachkollektivs und Permissivitat der Normengebung gezahlt werden konnen. Dem Allensbacher Bericht „Was denken die Deutschen uber ihre Mutter-sprache und Fremdsprachen?" aus dem Jahr 2008 ist zu entnehmen, dass die widerspruchliche sprachenpolitische Situation zu einer Spaltung der Sprach- und somit Identitatsauffassung in Deutschland fuhren kann: die altere Generation spricht sich ausdrucklich fur die Verscharfung der KodifizierungsmaBnahmen, wohingegen die jungere sich eher fur einen lockeren Umgang mit der Titelspra-che einsetzt. Diese Interessendiskrepanz legt ein beredtes Zeugnis uber den Ein-heitlichkeitsmangel der gegenwartigen deutschen Sprach- und Sprachenpolitik ab, der am besten durch ein ausgewogenes sprach(en)politisches Modell uber-wunden werden kann. Wahrend die Exoglossie als sprach(en)politische Prafe-renz mit der Veranderung einer Sprache im Zusammenhang steht, steht der ent-gegengesetzte endoglossische Pol auf der Skala der sprachpolitischen Praferenzen fur Spracherhaltung und -wahrung. In seiner Geschichte pendelte das Deutsche stets von einem Pol zum anderen: Momente der Strenge wurden unaus-weichlich durch ihre Demokratisierung abgelost [9: 42]. Zu fragen ware, wann wird die exoglossische Phase der heutigen Sprachenpolitik endlich durch die endoglossische abgelost, von der die deutsche Sprache und die gesamte Germanistik profitieren soll? Was muss getan werden, damit die deutsche Sprachenpolitik bewusster, einheitlicher, zentra-listischer und konsequenter wird? In seinen „Maximen und Reflexionen" erwahnt J.W. von Goethe ein Modell der Sprachnutzung, bei dem „der affirmative Purismus als Grundlage einer besonnenen Entlehnung vorwalte". Der meistenfalls noch so negative empfundene Purismus hat nichts mit Restriktion und Sprachdeskriminierung zu tun, sondern vielmehr mit der Besinnung auf die Schopfungskraft der ei-genen Sprache. Das zentristische Funktionsprinzip des Deutschen, das hier angedeutet wurde, mundet in das Konzept eines exo-endoglossischen Sprach(en)politikmodells, das ein Ausgleich zwischen dem poly- und mono-zentristischen, sprachdemokratischen und -nationalistischen, permissiven und restriktiven Charakter der Sprachstandardisierung darstellt [5: 1020]. Eine Notlosung konnte eine deutsch-englische Diglossie in den am meisten mit englischem Sprachgut durchsetzten lexikalischen Bereichen des deutschen Sprachbestands sein, zu denen nach D. Herberg die der Computer- und Internettechnologien, der Massenkommunikation, des Gesellschaftslebens, des Sports und der Finanzen gehoren [2: 198]. Das Konzept eines exo-endoglossischen (zentristischen) sprach(en)politischen Modells setzt eine Korpus- und Statusplanung der Sprachsituationskomponenten voraus. Au-Berdem werden die korpus- und statusbezogenen Praferenzen laut W.T. Klo-kov auf Verwaltungs-, Wissenschafts- und Gesellschaftsebenen verwirklicht [4: 57]. In der Korpusperspektive konnte die polyzentristische Dynamik durch folgende MaBnahmen ausgeglichen werden: auf der Verwaltungsebe-ne konnten die Kodifizierungsanforderungen fur Anglo-Amerikanismen zur Verhinderung der redundanten Rechtschreibvarianz unifiziert werden; auf der Wissenschaftsebene ware die Einfuhrung von parallelen Registern sowie eine teilweise Verdeutschung von Fachtermini von Bedeutung. Bezuglich des Status konnten sich im Zuge des drastischen Ruckgangs des Deutschen auf der internationalen Ebene folgende MaBnahmen als wirksam erweisen: das Deutsche konnte auf Konferenzen zumindest im deutschsprachigen Raum als erste Konferenzsprache fungieren; die identitatsstorende Vorrang-stellung des Englischen in Deutschland konnte aufgrund ihrer negativen Auswirkung auf den Status des Deutschen im In- und Ausland wenigstens in Frage gestellt werden; in Russland sei Deutsch als eine gleichberechtigte Fremdsprache neben Englisch, Franzosisch u. a. anzusehen; statt Geld in die Filialen des Goethe-Instituts flieBen zu lassen, musste man einzelne Perso-nen fordern, die vor Ort aktiv sind (z.B. kenne ich einen Kollegen, der uber 9 Jahre lang vergeblich versucht, an Ubersetzungsseminaren in Moskau teilzu-nehmen, dabei ist er kein schlechter Ubersetzer; ich selbst arbeite seit uber 20 Jahren an einem einzigartigen russisch-deutschen phraseo-paromio-logischen Worterbuch, das ein Desiderat in der russischen Germanistik ist, aber jede Unterstutzung bleibt aus); ein deutschsprachiger Rechtschreibwett-bewerb, eine aussichtsreiche Idee einer Kollegin aus Tomsk, konnte russ-landweit regelmaBig veranstaltet werden. Auf der Suche nach einer moglichen Losung Um die Frage, wie dem Statusschwund des Deutschen in Russland ef-fektiv entgegenzuwirken sei, zu beantworten, ist ein Verstandnis dessen no-tig, wozu die Fremdsprachen uberhaupt gelernt werden. Allen Vorstellungen zuwider werden nicht die am meisten verbreiteten Sprachen gelernt, sondern lediglich diejenigen, die im Ausland bzw. auf ein konkretes Land am meisten Einfluss ausuben, der gemeinhin als Prestige bezeichnet wird. Das letztere kann nach einer gultigen Formel berechnet werden [6: 25], jedoch das Entscheidende am Einfluss einer Fremdsprache ist, dass er gesteuert und somit zum Spielball der Interessen von Politikern unterschiedlicher Couleur werden kann. „Es zahlt zum groBten Manko der Sprachenpolitik, dass sie nicht von Linguisten, sondern von Politikern gemacht wird", beklagt M. Rannutt [8: 88]. In dieser Hinsicht erweist sich die russlandkritische Rhetorik samtli-cher deutschen Staatsmedien als kontraproduktiv fur die deutsche Sprachpo-litik in Russland. Statt Anglizismen und allem Amerikanischen Kampf anzu-sagen, erklaren viele proamerikanische Demokraten in der heutigen BRD einen der altesten deutschen Verbundeten auf dem Kontinent zu einem der groBten Risiken fur Deutschlands Sicherheit: „Russland ist kein Partner mehr, sondern ein Rivale" [1]. Glucklicherweise wurde die komplett aus Washington gesteuerte WeiBbuchdebatte, die in Russland eine ungeheure Emporungswelle ausloste, mit den versohnlichen Worten des deutschen Bot-schafters in Moskau Rudiger Freiherr von Fritsch vorubergehend beendet: „Wir arbeiten hart fur gute Beziehungen" [10]. Auch wenn der groBte Ruck-schlag fur das Prestige der deutschen Sprache dank einem weisen Politiker abgewendet sei, konnte man sich fragen, ob jemand in Russland nach sol-chen Meldungen noch freiwillig Deutsch lernen wurde. Muss man erwarten, dass nach alledem Deutsch bei Russen beliebt sein wird? In einer Situation, wo die gesamte offizielle deutsche Presse vor Russophobie strotzt, muss die Frage im Sinne von G. Grass „was gesagt werden muss" lieber als „was nicht gesagt werden muss" formuliert werden, um den deutsch-russischen Beziehungen nicht noch starker zu schaden, die ohnehin durch vollig sinn-entleerte SanktionsmaBnahmen belastet sind. Wie bereits erwahnt, resultiert die prekare Lage des Deutschen in Russland aus der Amerikanisierung der deutschen Sprache und Kultur. Dadurch wurde Deutsch leider zum Bestandteil der englischen Sprachpolitik, und solange kein Umdenken bei den deutschen Politikern in Sicht ist, werden die Aussichten furs Deutsche in Russland immer finsterer. Als Zweit-fremdsprache wird es sich schwerlich einleben und, um die erste Fremdspra-che (wieder) zu werden, muss es dem Englischen zu viele Kommunikations-spharen abringen, darunter Sport, Mode, Freizeit / Lifestyle, Erholung, Wis-senschaft, Politik, Finanzen / Bankwesen usw. Die Neologismen, egal in welcher Sprache, werden in diesen Spharen langst aus englischem Mor-phemmaterial produziert (vgl. [2: 195]) - ein Monopol der englischen Spra-che, das nur mit dem des Lateins zu vergleichen ware. Die klassische Frage „qui bono?" („wem nutzt das?") bringt es auf den Punkt: die einzigen NutznieBer der Verbreitung des Deutschen im Aus-land sind die Deutschen selbst. Entweder hat man also kein Interesse am Fortbestehen der Deutschtradition im groBten Land der Erde oder eben keine Interesse an der eigenen Sprache. Tertium non datur. Dies besagt, dass nur die Deutschen gegenuber vielen Russlandgermanisten Verantwortung tragen, die ihren Beruf unter dem Einfluss der deutschen Sprachenpolitik im Aus-land erlernt haben und nun sich im Stich gelassen fuhlen. Bei gleichbleiben-den sprach(en)politischen Rahmenbedingungen fur die deutsche Sprache sind auch solche nennenswerte Initiativen wie Deutsch 3.0 des Goethe-Instituts dem Untergang geweiht, obwohl sie sehr engagiert und ambitioniert vorangetrieben wird. Um wirklich Attraktivitat des Deutschen zu steigern, muss auch sei-tens der DAAD-Lektoren mehr geleistet werden als bloB mit Themen wie „Kulturwissen" oder „Fremdsprachkompetenzen" durch Russland zu reisen und auf diese Weise Geld zu verdienen. Die Sprachenpolitik muss von Profis gestaltet werden und nicht von Laien, die einfach nur arbeitslos in Deutsch-land sind. Um eigene Sprache kampfen verlangt Mut und Entschlossenheit. Ein altes deutsches Sprichwort lautet: wer mit dem Teufel essen will, muss einen langen Loffel haben - wer mit Englisch konkurrieren will, muss keine Demokratie spielen. Wenn man heute Englisch lernen will, steht einem die ganze Welt of-fen, die Angebote ubersturzen sich, einem fehlt an nichts, auch nicht am Umgang mit Muttersprachlern, obwohl die Angelsachsen in der Verbreitung des Englischen eher ein Geschaft sehen. Mochte man aber die deutsche Sprache lernen, schlagt einem entweder der enttauschende Anglizismus „Geoblocking" in den Mediatheken bei ARD und ZDF oder ein uner-schwinglicher Preis auf Euro-Basis entgegen und das bei aller demotivieren-den Komplexitat der deutschen Grammatik. Welche Filme und wo kann man auf Deutsch schauen auBer den Billigprodukten von vollig unauffalligen Ki-nofestivals, die niemand freiwillig schauen wurde? Wenn man sich uber den Sport in Deutschland oder olympische Spiele informieren mochte, bekommt man auf seinem Bildschirm nur den abweisenden Satz „die Inhalte sind in Ihrem Land nicht abrufbar" zu lesen. Einen groBen Ausgleich schaffen dies-bezuglich lobenswerte Sprachlernangebote der Deutschen Welle, jedoch nicht die Art der Berichterstattung. Die gesamte Tatigkeit der zeitgenossischen Sprach(en)politiksubjekte steht trotz einer breitgefacherten Palette der Angebote in vielem der Wirk-samkeit des Herder-Instituts zu den DDR-Zeiten nach, obwohl es nie zu sol-chen gehorte. Der Grund bleibt nach wie vor die Amerikanisierung, die trotz aller Kritik an der DDR in den Staaten des Ostblocks keine Chancen hatte. Heute steht fest: Deutsch scheint - zumindest langfristig - den Kampf um den Status einer kunftigen Erstfremdsprache in Russland verloren zu ha-ben. Ein Weiterkampfen gegen das aggressiv und vollkommen rucksichtslos verbreitete Englisch mit politisch korrekten, demokratischen Mitteln ist nicht langer moglich. Es ist nicht die Aufgabe dieses Beitrags, festzustellen, ob die Entwicklung von zentristischen Sprach(en)politikmodellen und eine demo-kratische Gesellschaft kompatibel waren. Es sei nur darauf hingewiesen, dass eine Sprachenpolitik als Folge der Staats- und Gesellschaftspolitik zwangslaufig in sprach(en)politischen Konzepten existiert, auch wenn dies vielen Sprachnutzern nicht immer bewusst ist. Aus der SprachenauBenper-spektive betrachtet erscheint die heutige amerikazentrische „Demokratie" in der BRD als ein gewaltiges Hindernis fur die Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur europaweit.

Ключевые слова

German language policy, language criticism, Americanization, language preferences, language policy models

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